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Das hat sich gerade geändert - allerdings nicht in der Weise, an
die Ruckert gedacht haben dürfte. Seit einer Woche steht er fast
täglich in der Bild-Zeitung. Von Skandal ist die Rede, von
perversen Fessel-Spielen, Fußfolter und Nadel-Qualen, die der
"Sex-Künstler Ruckert" mit Steuergeldern finanziere. Man las Titel
wie "Da platzt einem doch der Knoten: Fesselsex-Künstler bekommt
noch einmal 150 000 Euro vom Senat".
Tatsächlich hat es all das zwischen dem 23. und 25. Juli im
Berliner Off-Theater Dock 11 gegeben, wenn auch in einem anderen Geist
als Bild & Co suggerieren. Der "xplore 04: extreme sinnlichkeit -
sinnliche extreme" betitelte Wochenend-Workshop wurde von Felix Ruckert
initiiert und mit Fördermitteln der Senatsverwaltung finanziert.
Ruckert erhielt für 2003/2004 eine so genannte Basisförderung
von insgesamt 100000 Euro. Knapp 10000 Euro davon flossen in das
"xplore"-Wochenende. "Mit freundlicher Unterstützung der
Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur",
heißt es auf der Rückseite der Broschüre, die Workshops
wie "Spiele mit Nadeln", "Spanking und Rohrstock", "Orgasmusschule"
oder "Heißes Wachs" präsentiert. Das ist selbst für
aufgeschlossene Gemüter harter Stoff.
Felix Ruckert ist mit seiner Familie im Urlaub. Er telefoniert jetzt
viel mit Journalisten und kann die Aufregung nicht verstehen: Gerade in
unserer heutigen Gesellschaft, in der Sex so kommerzialisiert werde,
sei es doch unbedingt auch eine Aufgabe der Kunst andere Vorstellungen
und Visionen von Sexualität zu entwickeln. Es sei bei diesen
Workshops zunächst einmal um den Körper gegangen. Um einen
Körper allerdings, der die sonst im Tanz oft ausgeklammerte
Sexualität mit einbeziehe. Yoga, Tai Chi, Meditation: Dass alles
seien Techniken, die nicht für den Tanz erfunden wurden, die aber
die Körperwahrnehmung nachhaltig veränderten und auch neue
Tanzstile hervorbrachten. "Auch im Sadomasochismus sind Körper-
und Inszenierungstechniken entstanden, die dem Tanz neue Impulse geben
können und diese Aspekte interessieren mich", sagt Ruckert.
Fest steht: Das Begehren des Betrachters begleitete das Ballett von
Anfang an. In der Pariser Oper etwa ergötzten sich die Herren erst
von ihren Logen aus an den Tänzerinnen; nach der Aufführung
vergnügten sie sich mit ihnen im Séparée. Die
Libertinage ist fester Bestandteil der Ballettgeschichte; so verdienten
bis fast ans Ende des 19. Jahrhunderts viele Tänzerinnen ihren
Lebensunterhalt.
In nicht ganz so krasser Ausformung spielt dieser Voyeurismus auch
heute noch eine Rolle - und ist für den Boulevard als Herrenwitz
durchaus akzeptabel, denn die Herrschaftsverhältnisse werden nicht
angetastet. Doch der begehrliche Blick des Zuschauers ist immer da: Im
Tanz wie im Schauspiel sind Beliebtheit und Bewertung der Leistung
stark an das Aussehen der Künstler gekoppelt. Ohne eine Reflektion
der Beziehungen zwischen Darsteller und Betrachter sowie der
Objekthaftigkeit von Kunst ist die moderne Kunstgeschichte nicht zu
denken.
Felix Ruckert, der früher bei Pina Bausch tanzte, fand eher
zufällig zu diesem Thema. 1995 arbeitete er während der
Proben an einem neuen Stück individuell mit seinen Tänzern,
und weil er diese Konstellation außerordentlich spannend fand,
warf er sein bisheriges Konzept um. Er entwickelte "Hautnah", ein
Stück, in dem sich ein Tänzer und ein Zuschauer fünfzehn
Minuten lang in einem Séparée begegnen. "Hautnah" ging um
die Welt und wurde 1999 von der New York Times zu einer der zehn
wichtigsten Tanzaufführungen des Jahres gewählt. Ruckert
hatte zu seinem Theater gefunden: Während andere Künstler das
Thema in Diskursen verhandelten, sprang er sozusagen mitten in das
Begehren hinein. Er brach, auch in jedem seiner Folgestücke, die
Trennung zwischen Darsteller und Zuschauer auf und setzte anstelle der
Simulation von Bedeutung die direkte Erfahrung aller Beteiligten. Die
Frage nach Macht und Ohnmacht und die nach dem Verhältnis zwischen
Kunst und Ritual ist dabei wesentlich.
Sadomasochismus wurde zu einer Chiffre dafür.
Dieses Jahr wird Felix Ruckert ein Stück für das
Staatsballett in Hanoi choreografieren, im nächsten Jahr arbeitet
er für das Ballett in Tokyo. Mit Stücken wie "Made in Berlin"
wird er weltweit gefeiert, aber jetzt läuft er Gefahr seine
Förderung zu verlieren: für 2005/2006 waren ihm von einer
Fachjury gerade 150 000 Euro zuerkannt worden. Für Manfred
Fischer, in der Kulturverwaltung zuständig für
Projektförderung und Stipendien, ist die Kulturverwaltung keine
Zensurbehörde, sie wolle sich vom Boulevard nicht aufhetzen
lassen. Sie werde aber prüfen, ob der von Ruckert veranstaltete
Workshop "mit dem Zuwendungszweck in Einklang steht". Denn die
Basisförderung lässt dem Künstler einen gewissen
Spielraum: Förderungszweck sind "Inszenierungen und die allgemeine
Theaterarbeit". Der Künstler muss zudem genau abrechnen, wie er
die Gelder verwendet hat. Von dem besagten Wochenende wusste man in der
Kulturverwaltung nichts, aber in Ruckerts Logik gehört es
unbedingt zu seiner Theaterarbeit. Es ging ihm um die Erforschung von
Lustritualen.
Als Nächstes will er ein Tanzstück über das Neue
Testament inszenieren; er beschäftigt sich mit rituellen Praktiken
im Christentum, in denen die Selbstpeinigung eine große Rolle
spielte. Er mag, auch nach Ansicht der Renzensentin, den Bogen mit dem
Workshop überspannt haben, aber Veruntreuung wird man ihm
schwerlich vorwerfen können. Gerade erst vor wenigen Wochen machte
Calixto Bieitos Mozart-Inszenierung "Die Entführung aus dem
Serail" Skandal. Heftig wurde gestritten, am Ende trug die Kunst den
Sieg davon. Im "Fall Ruckert" forderte der CDU-Abgeordnete Karl-Georg
Wellmann den Senat bereits auf, die Förderung des Projekts
"xplore04" zu rechtfertigen. Felix Ruckert ist ein ernst zu nehmender,
anerkannter Künstler. Sollte er seine Förderung ob des
Skandals verlieren: Es wäre ein Sieg für den Boulevard und
eine Niederlage für die Kunst.